Was wäre das Salzburger Adventsingen ohne seine Kompositionen und seine Ideen?
Um wieviel ärmer wäre das Kulturland Salzburg ohne ihn?
In diesem Buch:
Im Auftrag des Salzburger Volksliedwerkes und des Salzburger Musikvereines mit Unterstützung des Landes Salzburg, der Orff-Schulwerk-Gesellschaft Österreich und der Hubert-von-Goisern-Stiftung verfasst von:
Am 8. August 2020 wäre Wilhelm Keller 100 Jahre alt geworden. Das neue Buch – im 75. Jahr des Salzburger Adventsingens – ist eine Erinnerung an diesen umfassend gebildeten Salzburger Humanisten, Komponisten und Musiktheoretiker, der mit den Adventsingen von Tobi und Tobias Reiser seit den 1960er-Jahren verbunden ist. Wilhelm Keller war außerdem langjähriger Leiter des Orff-Institutes des Mozarteums, elementarer Musikpädagoge sowie ein Pionier auf dem Gebiet der musikalischen Sozial- und Heilpädagogik und nicht zuletzt Friedensaktivist.
Ohne Kellers prägende, d. h. einzigartige und identitätsstiftende musikalische Handschrift, insbesondere ohne seine bewegenden Kantaten seit 1964 und sensiblen Liedbearbeitungen nach volksmusikalischen Überlieferungen für viele Adventsingen der beiden Reisers wäre unser Land Salzburg heute um einiges ärmer. Von ebensolcher Einzigartigkeit sind seine Lied-Kompositionen, oft nach Textvorlagen von Tobias Reiser, oder für dessen Szenische Oratorien „A Liacht is aufkemma“ (1986–1988) und „Der Engel Gabriel“ (1996) sowie Kellers Kompositionen für die Veranstaltungsreihe „Das Jahr des Herrn“.
Wilhelm Kellers Musik hat den volksmusikalischen Klangraum Salzburg auf das Schönste bereichert. Unvergessen und inzwischen zu Klassikern adventlicher Musik geworden sind seine herrliche Einleitungskantate zum Adventsingen des Jahres 1964 mit dem utopischen Friedenstext aus Jesaja 11:6 „Die Wölfe werden bei den Lämmern wohnen“ oder seine „Ave Maria“-Eröffnungskantate zum Adventsingen des Jahres 1971. Die zahlreichen Volksliedbearbeitungen stehen seinen adventlichen Schöpfungen in nichts nach.
Weit über seine „volksmusikalischen“ Schöpfungen hinaus fand Kellers ausgeprägte Liebe zum dichterischen Wort schönsten Widerhall in vielen seiner Kompositionen, z. B. mit und nach Worten von Franz von Assisi („Sonnengesang“ 1947), Karl Kraus („Apokalypse. Kantate“ 1949; „Mörderwelt post christum natum. Rezitationen“ 1957), Goethe („Mignon. Lieder“ 1954), Christian Morgenstern („Galgenlieder“ 1954), Matthias Claudius („Wandsbeker Weisen“ 1956), Else Lasker-Schüler („Hebräische Balladen“ 1965/66), Georg Trakl oder Paul Celan – eine vorzeigbare Reihe großer Autorinnen und Autoren. Kellers besondere Liebe galt auch Texten des Alten und des Neuen Testaments.
Anlässlich der Wiederkehr von Wilhelm Kellers 100. Geburtstag werden nun zum ersten Mal alle einschlägigen „volksmusikalischen“ Kompositionen und Bearbeitungen Kellers publiziert, begleitet von einer umfassenden Darstellung von Kellers Leben, Werk und Wirken. Herausgekommen ist ein imposantes Werk mit etwa 200 Noten- und 100 Textseiten.
Josef Radauer, der Kontrabassist der weltbekannten Camerata Salzburg und zugleich begnadete Salzburger Volksmusikant, hat sich gemeinsam mit seinem Kollegen Martin Hinterholzer die große Mühe gemacht, alle einschlägigen Kompositionen erstmals für diese Publikation zu transkribieren.
Es handelt sich um ein in sehr vielen Aspekten innovatives Buch. Es ist sehr erfreulich, dass Manuela Widmer, die Tochter Wilhelm Kellers, zugleich Musikpädagogin und Nachlassverwalterin ihres Vaters, für die Mitarbeit an diesem umfangreichen Projekt gewonnen werden konnte. Sie bietet eine umfassende lebensgeschichtliche Darstellung, wie ihn die Keller-Forschung bisher aufgrund der fehlenden Quellen nicht leisten konnte. Auch Florian Keller, Wilhelm Kellers Sohn, ehemals Hiatabua, Organist und Sänger beim Salzburger Adventsingen, steuert wertvolle, bisher unpublizierte Erinnerungen bei.
Dazu kommt, dass der wissenschaftliche Leiter des Archivs des Salzburger Volksliedwerkes, Wolfgang Dreier-Andres, bisher unbekannte Archivbestände des Salzburger Volksliedarchivs einsah und ganz neue Forschungsergebnisse liefert, die direkt mit Wilhelm Keller in Verbindung stehen. Nachdem das seit 1908 aufgebaute Archiv durch einen Bombentreffer im Jahre 1944 weitgehend zerstört worden und durcheinandergeraten war, lag es skandalöser Weise mehrere Jahrzehnte brach, niemand fühlte sich zuständig: Keller spielte seit 1963 eine entscheidende Rolle bei der Neu-Erschließung, Neuordnung, Erweiterung und Rehabilitierung des Restes dieser großartigen Sammlung. Seine Leistung dafür ist nicht hoch genug zu würdigen, denn sein scheuklappenloser und wissenschaftlich fundierter Umgang mit den Restbeständen dieses Archivs war nicht zuletzt Garant für Kellers fortschrittliches Engagement für die Adventsingen der Reisers, denen er letztlich einen neuen Klang gab – fundiert in biblischen und hochsprachlichen, aber auch in dialektalen Texten.
Dies konnte nur einer leisten, der in den volksmusikalischen Rest-Überlieferungen den Glanz und die Schönheit der Lieder erkannte. Diese regten Keller zu seinen eigenen Bearbeitungen und Kompositionen an und brachten ihn – den ehemals rassistisch vom NS-Regime Bedrohten, aber von Freunden Geschützten – dazu, nichts von jenen Volkstumsideologen zu halten, die „die Volksliedbewegung […] als eine gegnerische Bewegung zur modernen Musik“ betrachteten: „Volksmusik“ sei, so war Keller aus guten wissenschaftlichen Gründen überzeugt, weder „natürlicher“ als „Kunstmusik“ noch sei das ideologisierende Reden der Volkstumsapostel über einen völkischen „Mutterboden“ tragbar.
Das umfangreiche Schaffen Wilhelm Kellers wird in dem neuen Buch nicht zuletzt durch den Abdruck von Ausschnitten aus seinen zahlreichen aufklärerischen Aufsätzen und Vorträgen, Stellungnahmen, Interviews und Diskussionsbeiträgen zum Volkslied und zur Volkskultur insbesondere des salzburgisch-bayerischen Raumes, aber auch zu dramaturgisch-ästhetischen Fragen der Adventsingen und Oratorien gewürdigt. Karl Müller hat diese Auswahl von Kellers substantiellen Beiträgen seit den 1960er-Jahren zusammengestellt und kommentiert, um auch die Breite und Tiefe seines Denkens zu dokumentieren.
Das neue Buch über Wilhelm Keller enthält die bisher umfangreichste, aus dem Nachlass vervollständigte Bibliographie aller seiner Kompositionen und Publikationen, weiters Angaben zum Entstehen und zu den Erst-Aufführungen seiner Kompositionen im Kontext des Adventsingens sowie zu den Quellen jener Volkslieder, die er aufgriff und bearbeitete. Auch der Stand der Forschungsliteratur zu Wilhelm Keller in all seinen Facetten fehlt nicht.
Kellers gesamte Arbeit beruht auf einem festen ethischen Fundament. Bertrand Arthur Russell (1872–1970), der walisische Mathematiker, Philosoph und Pazifist, war dem Friedliebenden mutiges Vorbild. „VITAMO“ nannte Keller seinen eigenen Entwurf einer elementaren Ethik universaler Lebensliebe als Wegweiser zum „verborgenen Gott“, zu einem Gutsein ohne Gott und Guru für Ungläubige, Zweifler und tolerante Gläubige – für eine Welt der Schönheit und der Kunst.
Leben:
retten – nicht vernichten
schützen – nicht gefährden
verlängern – nicht verkürzen
Gesundheit:
wiederherstellen – nicht zerstören
schützen – nicht gefährden
verbessern – nicht verschlechtern
Freude:
verursachen – nicht verhindern
erhalten – nicht verderben
vermehren – nicht vermindern
(Wilhelm Keller)
Die Herausgeber und Verfasser des neuen Wilhelm-Keller-Buches freuen sich, wenn Kellers „volksmusikalisches“ Werk von vielen Chören und Gesangsgruppen wiederentdeckt und gesungen würde. Diese werden die Möglichkeit bekommen, gewünschte Kompositionen auf Anfrage beim VolksLiedWerk zu bestellen.
In seiner selbstverfassten Grabschrift („Epitaph“, op. post.) hatte Wilhelm Keller geschrieben:
„ICH bin gewesen.
CORPUS ward staub und asche
ANIMUS GESANG
ICH bin nicht mehr da –
doch was ich sagte und sang,
hallt wider in EUCH!“
Entnommen der CD „Salzburger HirtenAdvent. Es begab sich ...“ (2020)