Schichten - Strömungen - Spannungsfelder

Volksmusikalische Zeitfenster in Salzburg 1816–2016. Dokumentation des Symposions auf Burg Hohenwerfen, 9.–11. November 2016, hrsg. von Wolfgang Dreier-Andres, Salzburg 2020

„Schichten - Strömungen - Spannungsfelder“ - ein abstrakter Titel für ein Buch, das sich mit Salzburger Volksmusik beschäftigt? Mitnichten! Denn die Geschichte populärer Musikformen lässt sich nicht so einfach in schöner zeitlicher Abfolge, wie aus dem Musikunterricht von der westlichen Kunstmusik her gewohnt, in „Gregorianik – Renaissance – Barock – (Wiener) Klassik – Romantik – Neue Musik“ aufschlüsseln und anhand ausgewählter Meisterwerke präsentieren. Vielmehr gilt es, die verstreuten Zeugnisse unterschiedlicher historischer und sozialer Schichten freizulegen, gleich Mosaiksteinchen zusammenzufügen und dem nachzuspüren, was da und dort – sicher oftmals flüchtig – in Erscheinung trat und vielleicht auch bald wieder verschwand oder aber sich behaupten konnte. „Autographe“, Fetisch und Kapital heutiger Kunstauktionen und mit Geldbeträgen gehandelt, deren Höhe zum Informationsgehalt der Quelle in keinerlei Relation mehr steht, gibt es selten. Sofern vorhanden, handelt es sich bei „Originalen“ in über 90 Prozent der Fälle um reine Liedtextaufzeichnungen aus alten Gebrauchsliederbüchern, oft aber weniger als hundert Jahre alt, manchmal gar mit Schulheftlinien versehen – nicht wertvoll also, zumindest nicht im Sinne eines Marktwertes. Und dennoch – gerade das Verstreute, Heterogene, kurz Aufblitzende hat seinen ganz eigenen Reiz, eröffnet eine ganz eigene Musikgeschichte, die allerdings erst erarbeitet, zusammengesetzt und immer wieder neu geschrieben und diskutiert werden muss, wenn etwa neue Quellen hinzukommen, die das bisher gewohnte Bild in Frage stellen oder konterkarieren.

Das bisher umfassendste Werk zur Geschichte der Volksmusik in Salzburg

Daraus erklärt sich auch das Titelbild des Buches – „Cardhu“ von Brigitte Dietl, ein aus verschiedensten, sich teils überlagernden, kurz hervorblitzenden oder gänzlich verschwundenen, oberflächlich unsichtbaren Schichten zusammengesetztes, abstraktes Gemälde. Ein Bild, dessen Gesamteindruck oder auch Zeichenqualität abhängig ist vom Vorwissen, Vorurteil und der Erfahrung seiner jeweiligen Betrachter, wie in der Musik auch, wo ein- und dasselbe akustische Dokument bei verschiedenen Hörerinnen und Hörern völlig unterschiedliche Gefühle und Eindrücke hervorzubringen vermag. Ein Analogon zur Geschichte der Volksmusik, das die Mehrdimensionalität, das Flüchtige, sanft Durchschimmernde neben das deutlich Gezeichnete stellt. Es steht am Eingang einer Musikgeschichte unterschiedlicher Strömungen, die einzelne Schichten wegschwemmen oder sogar gänzlich überlagern konnten, an deren heutigen, oft starr und unbeweglich gewordenen Oberflächen man jedoch kratzen kann, um Überlagertes wiederum freizulegen und vergangene Strömungen und Konturierungen erfahrbar zu machen. 

Die mit diesem Buch nun vorliegende, bisher umfassendste gedruckte Geschichte der Salzburger Volksmusik wäre ohne ihre 19 Autorinnen und Autoren nicht zustande gekommen. Zudem handelt es sich nicht „nur“ um einen reinen Sammelband –vorausgegangen ist dem Buch nämlich ein Symposion im Jahr 2016, im Zuge dessen die Autorinnen und Autoren, damals Vortragende, anschließend an ihr Referat beim Symposion die Chance hatten, die schriftliche Fassung ihres Vortrags anhand wertvoller Diskussionsbeiträge nochmals zu überdenken und gegebenenfalls zu korrigieren.

Fünf Jahre nach der ersten Konzeption des Symposions oder über 750 empfangene Mails später liegt das Buch nun vor – angereichert mit einer 27 Hörbeispiele umfassenden Audio-CD-Beilage, Noten und Texten von 98 Liedern, Schnaderhüpfeln und Instrumentalstücken sowie 50 weiteren Notenbeispielen. Die 19 Beiträge reichen thematisch vom Mönch von Salzburg bis hin zu Hubert von Goisern und Broadlahn, also von der 2. Hälfte des 14. Jahrhunderts bis in die Gegenwart und sind chronologisch angeordnet, um tatsächlich als Musikgeschichte gelesen werden zu können.

Die große Klammer für unsere weite Reise durch die Geschichte(n) der Salzburger Volksmusik bilden die einleitende Keynote der Salzburger Kulturredakteurin Hedwig Kainberger und der abschließende Beitrag des Dichters, Autors und Hirten Bodo Hell. Kainberger erinnert uns unter dem Titel „Musik schauen und spüren“ daran, dass uns unser „Forschungsgegenstand“, die Musik, bei aller wissenschaftlichen Auseinandersetzung damit auch emotional beschäftigen kann, darf und soll – Hell, der als stiller Beobachter dem Symposion beiwohnte, greift 24 prägnante Kernsätze und Schlüsselmomente für ein Fazit heraus.

„Wir brauchen in der Forschung mehr Musikanten“ (Silvan Wagner)

Zwar liegt die Zeit 1816–2016 im Fokus der Betrachtung, zumal die Quellen davor sehr dürftig ausfallen. Dennoch bedarf es der Untersuchung der Vorgeschichte, da ja die Musik seit 1816, wie jede andere kulturelle Handlung auch, auf konkreten Vorereignissen, Erfahrungen und Quellen aufbaut. Silvan Wagners einleitende Beschäftigung mit den Liedern des Mönchs von Salzburg allerdings geht über die Erläuterung einer sehr frühen Salzburger Quelle weit hinaus – er bietet wertvolle Handreichungen und Fingerzeige für den Umgang mit historischen, längst verklungenen musikalischen Quellen und fordert zu mehr Mut bei „Aufführungsversuchen“ auf Basis eigener Spielerfahrungen auf:

„Die germanistische Mediävistik könnte an der Volksmusikforschung lernen, deren Vertreter in der Regel keine Scheu haben, ihre ästhetischen Gegenstände auch praktisch zu interpretieren – auch wenn sie als Forscher wissen, wie viele historisch nicht verifizierbare Entscheidungen Bestandteile ihrer praktischen Interpretation sind und sein müssen.“

Anschließend spürt Michael Vereno der Sackpfeife im mitteleuropäischen und vor allem im Salzburg Raum nach – von ihrer noch selbstverständlichen Verwendung zu Zeiten Leopold Mozarts über ihre Rolle als reines „Bettlerinstrument“ im 19. Jahrhundert, bis hin zu ihrer Renaissance im Zuge des Folk-Revival im Europa der 1970er-Jahre und ihre Präsenz bei vielen heute bekannten Gruppen (u.a. „Schikaneders Jugend“, „Hotel Palindrone“, „Ensemble Unisonus“ und „Aniada a Noar“). Eng verzahnt mit Verenos Ausführungen ist der Beitrag von Simon Wascher, der anhand heutiger Aufführungspraktiken und Quellenstudien vor allem am Beispiel der Drehleier die lokale Gültigkeit und Einzigartigkeit instrumentaler Volksmusik auslotet und dabei zu einem überraschenden Schluss kommt:

„Die musikalischen Praktiken der Bevölkerung in Salzburg lassen sich, zumindest soweit es die historischen Quellen und die Belege bordunierenden Musizierens angeht, nicht von den musikalischen Praktiken anderer, benachbarter Gebiete unterscheiden. Ein ständiger Prozess anhaltender Umwälzung der musikalischen Praktiken lässt sich bis in die ältesten belegten Stilschichten zurückverfolgen. Bordunierendes Musizieren war darin manchmal stark vertreten und manchmal am Verschwinden.“

„Wenige (Melodie-)Typen – unzählbare Varianten“ (Walter Deutsch)

Die Erkenntnis der Verbreitung bestimmter, an anderen Orten in ähnlicher oder gleicher Gestalt vorkommenden Formen unterstreicht auch Walter Deutsch, der Doyen der österreichischen Volksmusikforschung, in seinem grundlegenden Beitrag über „Melodietypen in Salzburger Volksmusiksammlungen“. Einem zentralen Satz dieses Beitrags nach „gründet die mehrfache Existenz eines Liedes und dessen in jedem Ort anders gesungene Melodie im Grundmuster der musikalischen Volkskultur: wenige Typen bilden die strukturellen Fundamente für unzählbare Varianten.“ Deutsch bereitet nicht zuletzt dadurch das Fundament für die folgenden Beiträge, indem er die Volkslied- und Volksmusiksammlungen vom 19. bis hinein in die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts aufschlüsselt und den Leser für melodische Grundtypen und deren Variantenbildungen sensibilisiert. Mit diesen Varianten und Versatzstücken, aus denen wiederum Altbekanntes in veränderter Form weitergetragen wird, hat sich auch unser im Frühjahr verstorbener Kollege und Freund Rudolf Pietsch beschäftigt: Sein analytischer Beitrag über die „Abtenauer Tänze“ des Schusters Thomas Braun aus der Sonnleithner-Sammlung von 1819 zeigt in faszinierender Deutlichkeit das Pedant eines „Realbook“ – einer bekannten Melodievorlage mit Jazz-Standards zum Improvisieren – Anfang des 19. Jahrhunderts. Was dort anhand von 24 nach dem Quintenzirkel geordneten Tänzen als musikalisches Material in ständig variierter, diminuierter, augmentierter oder gespiegelter Form auftaucht, ist die Improvisationsgrundlage zum Bestreiten langer Tanzabende. Auf der Grundlage seines Könnens und seiner jahrzehntelangen Erfahrung zeigt Pietsch, dem das vorliegende Buch gewidmet ist, verschiedene Techniken, durch die Braun aus dem bereits vorhandenen Material wiederum neues generiert. Anhand der Hörbeispiele auf der CD und der aufführungspraktischen Erläuterungen (z.B. Lagenwechsel) verdeutlicht er ein ganz entscheidendes Kriterium der Volksmusik: Die Noten sind nur Gedächtnisstütze, die Musik ergibt sich erst durch die Interpretation auf der Grundlage tradierten (und oftmals verschwundenen) Wissens.

Die „liedhafte“ Entsprechung der Beiträge von Deutsch und Pietsch bildet der Aufsatz von Eva Maria Hois über „Schichten und Strömungen im Salzburger Volkslied in den letzten zweihundert Jahren“, die nahezu dieselben Sammlungen wie Deutsch, allerdings nach formalen und textinhaltlichen Kriterien analysiert und versucht, neben Konstanten auch Entwicklungen festzumachen, etwa das Verschwinden des vielstrophigen Ereignisliedes im 20. Jahrhundert. Damit hat sich Ernst Schusser in einem eigenen Beitrag intensiv beschäftigt – diese vom (gedruckten) Liedblatt mit seinen maximal drei Strophen verdrängte Form der gesungenen Geschichten lässt sich noch in den frühen Sammlungen des 20. Jahrhunderts, etwa bei Kiem Pauli und Kurt Huber, nachweisen. Schusser schlüsselt in seinem Beitrag die verschiedenen Typen dieser Gattung auf, etwa historisch-politische Lieder, die Moritat oder auch das Totengedächtnislied und liefert eine Fülle an vollständigen Liedbeispielen in Notentext und auf der CD-Beilage.

Pflegen, „Verschönern“ und Bearbeiten von Volkslied und Volksmusik

Thomas Hochradner bietet in seinem Beitrag zunächst anhand historischer Spielmannslisten einen Überblick über die in den Pfleggerichten des Landes Salzburg um 1800 tätigen Spielleute, ihre Berufe und ihren Stand und geht in einem zweiten Teil der Frage nach, inwiefern sich damals im Lichte der Aufklärung die Obrigkeit bereits genötigt sah, da und dort einzugreifen und die musikalische Kultur des „Volkes“ auf die „richtigen“ Bahnen zu lenken, damit, gemäß den Worten des ehemaligen Rektors des Salzburger Lehrerseminars, Franz Michael Vierthaler, „[…] die elenden, oft unsittlichen Volksgesänge nach und nach verstummen.“ Am Beispiel eines eigens für die „Herzensbildung“ des „Volkes“ konstruierten Liederbuches zeigt Hochradner eindrücklich und beispielhaft die frühen Pflegetendenzen und Versuche der Einflussnahme auf das auf, was wir heute unter „Volksmusik“ zusammenfassen.

Dieser weitreichenden historischen Idee einer Idealisierung und Adaptierung von Ländlichkeit, Volksmusik und Volkslied spürt auch Irene Holzer in ihren Aufsatz über den Komponisten und Musikverleger Anton Diabelli nach. Sie kann anhand des Verlagsprogramms unter anderem zeigen, dass frühe Volksmusiksammlungen tatsächlich eine kurze Zeitlang von professionellen Musikverlegern als Editionsgrundlagen verwendet wurden, das Interesse daran jedoch mit der zunehmenden Präsenz der großen Komponisten und Virtuosen des 19. Jahrhunderts wiederum schwand.

Mit unterschiedlichen Verarbeitungstechniken von Volksliedern beschäftigt sich auch Josef Radauer aus der Perspektive des Bearbeiters und Veranstalters. In seinem Beitrag geht es vor allem um Satztechnik, aber auch um die Diskrepanz von überlieferter Singtradition und komponierter Mehrstimmigkeit. Er geht der Frage nach, „[…] ob es neben dem so genannten Volksliedsatz, also der Über- oder Unterschlagszweistimmigkeit mit Funktionsbass, auch andere Möglichkeiten des Singens gibt, die diesen volksliedhaften Melodien nahekommen und auch den Ausführenden logisch erscheinen.“

Evelyn Fink-Mennel schließlich bietet in ihrem umfassenden Beitrag über die Einordnung der frühen Salzburger Jodlerquellen auch einen Überblick über jenes für die Bühne konzipierte und adaptierte volksmusikalische Repertoire, das sie der „Belcanto-Jodellied-Szene“ zuordnet. Sie wirft vor allem aber auch einen Blick auf historische Quellen des 19. Jahrhunderts, identifiziert bisher unbekannte und nicht als Jodler benannte Passagen in historischen Liedersammlungen und vergleicht sie mit Quellen des späten 20. Jahrhunderts.

Volksmusik – Folk – Weltmusiken

Ausgehend von Ulrich Morgensterns grundlegendem Beitrag über „Volksmusikalische Erneuerungsbewegungen in Österreich und Deutschland seit dem 19. Jahrhundert“ steht der abschließende Themenblock im Zeichen der Diskussion um die Enge und Weite des Volksmusikbegriffs, um Folk und Weltmusik. Ernst Huber („Broadlahn“) und Harald Dengg (pensionierter Chef des Referats Salzburger Volkskultur) setzten sich aus heutiger Sicht mit den einstmaligen Fronten von Folk-Musikern und Volksmusikpflegern auseinander, die anlässlich eines Symposions zu „Folk und Volksmusik“ 1989 auf Schloss Goldegg mit großem Getöse aufeinandergeprallt waren. Veranstalter und Medien hatten es damals gut verstanden, beide Seiten (Vertreter der Volksmusik und Vertreter des Folk Revival) zu provozieren: So ließ der damalige Salzburger ORF-Intendant Friedrich Urban im Programmheft verlauten, es werde „[…] noch immer von blondgelockten Förstern gesungen, die im Abendrot ein Rehlein erlegen und nach getaner Waidmannspflicht zu der Liebsten fensterln gehen.“ Willi Sauberer tönte in der ÖVP-eigenen „Salzburger Volkszeitung“ postwendend dagegen, beim Symposion werde „[…] schrecklich gescheit über die Frage geredet, warum eigentlich Jazz und Rock nicht in die traditionelle Volksmusik Eingang gefunden hätten.“ Huber und Dengg haben es – nicht zuletzt begünstigt durch den großen zeitlichen Abstand – verstanden, einen differenzierten Blick auf die damals im Raum stehenden Provokationen, Erwartungen und Positionen zu werfen. Durchaus im selben Spannungsfeld aber ist das Gespräch zwischen Maria Walcher und Hubert von Goisern zu sehen. Hier findet die spannende Diskussion um Stile, Fremd- und Vertrautheit ihre Fortsetzung, wenn Goisern unter anderem über seine Bewunderung für gewachsene volksmusikalische Stile, aber im selben Atemzug auch über Erfahrungen mit eingefleischten, mitteilungsscheuen Volksmusikanten berichtet und auch schonungslos anhand eigener Erfahrungen aufzeigt, wie schnell man im Bereich der traditionellen Volksmusik einer sein kann, der „nicht dazugehört“ oder nie dazugehören wird und deshalb seinen eigenen Weg finden und gehen muss.

Mit Hubert von Goisern schließt sich der Kreis – mit einem, der aus der Überlieferung geschöpft und sie mit eigener Performance verwoben hat, so wie bereits der Mönch von Salzburg es tat, wie uns die Ausführungen Silvan Wagners am Beginn dieser Salzburger Volksmusikgeschichte wissen lassen.

Eine der vielen Erkenntnisse, die die Lektüre des vorliegenden Bandes, neben umfangreichen Quellenstudien, Anregungen und Eindrücken bieten können, ist die folgende, von Bodo Hell als These Nr. 17 verschriftlicht:

„nach allgemeinem Konsens sollte das Wort echt aus der Rede
über Volksmusik verbannt werden, desgleichen die Bezeichnung uralt,
diese habe nur im Zusammenhang mit der Spirituosenmarke Asbach
ihre Berechtigung.“