Volksmusikalische Erneuerungsbewegungen in Österreich und Deutschland seit dem 19. Jahrhundert

Impulse - Wechselwirkungen – Abgrenzungen

Seit dem frühen 19. Jahrhundert sind im deutschsprachigen Raum Ausprägungen des Folklorismus bekannt, die nicht mehr der höfischen Unterhaltung und Repräsentation dienen, sondern als genuin bürgerliche Erneuerungsbewegungen darauf abzielen, in das soziale und kulturelle Leben der Gesellschaft hineinzuwirken. Hierzu gehören das Unspunnenfest (1805) sowie die Liedertafeln Carl Friedrich Zelters und Liederkränze Friedrich Silchers.
In Österreich war es Josef Pommer, dessen Volksliedbewegung als Gegenbewegung sowohl gegen die „Liederer im Volkston“ als auch gegen die zeitgenössischen städtischen und internationalen Popularformen sich positioniert. Wesentliche ideologische Impulse erhielt die österreichische Volkslied- und Volkstanzpflege von der deutschen Jugendbewegung und von der Lebensreform. Im Bereich von Stil und Repertoirearbeit ist dagegen über Jahrzehnte ein starker österreichischer Einfluss auf den deutschen Raum, besonders auf Bayern bemerkbar.
Wie in vielen europäischen Ländern ist in den 1970er-Jahren auch in Österreich eine starke Hinwendung zu lokal überlieferten Musikformen zu verzeichnen. Feldforschung wird nun zum entscheidenden Impuls und liefert mit Archivstudien die hauptsächliche Quellenbasis, während volkstümliche Unterhaltungsmusik und organisierte Pflege als negative Modelle herhalten. Zeitgleich hat in Deutschland eine irisch beeinflusste Folk-Bewegung ihren Höhepunkt, die deutsche Melodien und Texte aufgreift, jedoch nur wenig an lokale Musikformen anschließen kann oder will. „Alternative“ Volksmusik mit engem Traditionsbezug ist weitgehend auf Bayern beschränkt. Vereinzelt findet der „Deutschfolk“ auch in den entsprechenden politischen Milieus Österreich Anklang. In jüngerer Zeit stützen sich historisch orientierte deutsche Volksmusikgruppen vermehrt auf Musikantenhandschriften des 18. und 19. Jahrhunderts. Ein Interesse, das nicht zuletzt durch Kontakte zur österreichischen Szene angeregt wurde.
 

Univ.-Prof. Dr. Ulrich Morgenstern

Geboren 1964 in Gießen, Hessen. 1993 M.A. in Systematischer Musikwissenschaft und Ostslawistik, 2003 Promotion (Systematische Musikwissenschaft), 2011 Habilitation mit Schwerpunkt Volksmusikforschung / Vergleichende Musikwissenschaft jeweils an der Universität Hamburg. Professurvertretungen in Frankfurt a. M. (2009–2011) und Köln (2012). 2012 Ruf an die Universität  für Musik und darstellende Kunst Wien, Lehrkanzel für Geschichte und Theorie der Volksmusik. Seit 1989 Feldforschungen in Russland, seit 2013 auch zur aktuellen Musikantenszene in Wien und im Mostviertel.
Schwerpunkte in Forschung, Lehre und Publikationen: europäische Volksmusik in historischer und kulturanthropologischer Perspektive; Geschichte, Theorie und Methodik der Volksmusikforschung; Volksmusik in politischen/sozialen Bewegungen; Volksmusikforschung und politische Ideologien; Volksmusikbewegungen und Musikantenszenen in Österreich.